Zum Abschied von Ylva JohanssonChatkontrolle mit der Brechstange

Die #Chatkontrolle wird in Zukunft von jemand anderem forciert werden. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die das Projekt mit allen Mitteln durchsetzen wollte, ist nicht wieder nominiert worden. Ein Kommentar zum Abschied.

Ylva Johansson
Ylva Johansson (rechts) bei einer Veranstaltung im April. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Belga

Politische Auseinandersetzungen sind oftmals mit Gesichtern verbunden. Bei der Chatkontrolle war eines der Gesichter die schwedische Sozialdemokratin Ylva Johansson. Sie war seit Winter 2019 EU-Innenkommissarin, also die Innenministerin Europas – und damit die große Gegenspielerin von Bürgerrechtsorganisationen und der europäischen Digitalszene. Nun hat Schweden Jessika Roswall für die EU-Kommission nominiert – für welches Amt ist noch nicht bekannt. Damit ist klar, dass Ylva Johansson nicht im Amt bleiben wird.

Die Einführung der Chatkontrolle war eines von Johanssons politischen Großprojekten und offenbar auch eine Herzensangelegenheit, bei der die Politikerin nicht nur einmal den politischen Anstand und das Fingerspitzengefühl beiseite ließ. Für die Chatkontrolle, die Online-Diensten vorschreiben soll, private Inhalte der Nutzer zu durchleuchten, begab sie sich mehrfach und lange in extreme Nähe zu Lobbyorganisationen, machte Bilder und Videos für diese und ermöglichte Lobbyisten einen schnellen und direkten Zugang zu ihrem Amt. Dokumente der EU-Kommission über Treffen mit Lobbyorganisationen gab sie auch nach Beschwerden der EU-Bürgerbeauftragten nicht an Journalisten heraus.

Lügen und irreführende Werbung

Als der Gegenwind für das Projekt Chatkontrolle zunahm, schaltete sie mittels umstrittenem Microtargeting irreführende Werbung auf Twitter. Johansson wollte die Chatkontrolle mit der Brechstange durchsetzen, da war ihr fast jedes Mittel recht. Sie ignorierte die breite Kritik, traf sich nicht mit Gegnern der Chatkontrolle und wurde nicht nur einmal der Lügen und irreführenden Aussagen überführt. In Debatten und Sitzungen wiederholte sie gebetsmühlenartig und oft schwer erträglich ihre Version der Chatkontrolle, die angeblich konform mit Grundrechten sei. Dabei malte sie Schreckensbilder an die Wand, versuchte ihre Gegner mit Kinderleid für mehr Überwachung zu erpressen.

Letztlich hat sich der ganze Einsatz nicht gelohnt, Johansson ist bei der Chatkontrolle gescheitert. Die Chatkontrolle wird ihr großer Misserfolg als EU-Kommissarin bleiben, bis zuletzt gab es keine Zustimmung für den gefährlichen Vorschlag. Aus Sicht der Grund- und Freiheitsrechte ist das und auch der Abschied von Johansson eine gute Nachricht. Dass danach allerdings jemand kommt, der die Privatsphäre mehr achtet oder gar Abstand von den Plänen nimmt, ist leider nicht zu erwarten.

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4 Ergänzungen

  1. Da dieses mal auch die Grünen für Ursula von der Leyen und ihre nächste Kommission gestimmt haben, muss man dies im großen und ganzen als Zuspruch der Grünen im EU-Parlament für ein weiteres Vorantreiben von Chatkontrolle und allgemein der bürgerrechtsfeindlichen und autoritären Digital- und Überwachungspolitik der Kommission werten. Auf die noch rechteren Oppositionen darf man auch nicht setzen, da diese die ersten wären, die etwas ähnliches einführen würden, wenn sie an der Macht wären und die wenigen Linken sind zu schwach aufgestellt, um irgendwas zu reißen. Gibt es dann überhaupt noch relevante Gegenstimmen in der EU?

    1. Genau das ist auch meine Befürchtung. Vor allem, seitdem ich von den Plänen von vdL gelesen habe.

      https://www.handelsblatt.com/politik/international/eu-kommission-das-ist-von-der-leyens-plan-fuer-die-zweite-amtszeit/100053779.html

      Dieser Punkt lässt alle Alarmglocken läuten:
      „Auch die EU-Polizeibehörde Europol wird deutlich aufgestockt. Das Personal soll verdoppelt werden…“

      Das wird wohl heißen: Noch mehr Forderungen nach grundrechtswidrigen und bürgerfeindlichen Überwachungsmaßnahmen

      Mal abwarten, was jetzt nachkommt.
      Aber das Johansson endlich weg ist, ist zumindest ein -wenn auch geringer – Trost.

  2. > Da dieses mal auch die Grünen für Ursula von der Leyen und ihre nächste Kommission gestimmt haben, muss man dies …

    Nö, muss man nicht. Jeder ist frei seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

  3. Danke für die Hintergrundinformationen.

    Anmerkungen:

    Erwähnenswert finde ich auch die Dreistigkeit, mit der Ylva Johansson gemeinsam mit ihren Verbündeten versuchte, Missbrauchsopfer zu rekrutieren und zu instrumentalisieren. Ziel: gegenüber der Öffentlichkeit und in der Politik die eigenen ökonomischen und/oder politischen Eigeninteressen besser durchsetzen. Dazu https://balkaninsight.com/2023/09/25/who-benefits-inside-the-eus-fight-over-scanning-for-child-sex-content/

    Gleichzeitig betrieb es das weit verzweigte, sorgfältig untergliederte Netzwerk, dem u.a. Johansson, von der Leyen und Ashton Kutcher angehören, Missbrauchsbetroffene, die anstatt v.a. Emotionen anzurühren, in Sachen Chatkontrolle Argumente vortrugen, auf eine plumpe Weise auszubooten https://netzpolitik.org/2023/chatkontrolle-kritische-missbrauchsbetroffene-werden-nicht-gehoert/.

    Unabhängig davon, ob die Missbrauchsopfer, die sich von den am Chatkontrolle-Thorn-Projekt Beteiligten vor deren Karren spannen ließen, überrumpelt wurden und erst im Nachherein merkten, auf was sie da hereingefallen waren oder von Anfang an eingeweiht worden sind: das Brave-Movement-Beispiel zeigt, wie wichtig es für betroffenenpolitisch engagierte Menschen ist, bei jedem Unterstützungsangebot zu prüfen, inwieweit dies tatsächlich den vorgetragenen Zwecken dient oder sogar gegensätzlichen.

    Auch wenn die Strategie der BefürworterInnen der Anlasslosen Massenüberwachung diesmal nicht aufgegangen ist, weil Öffentlichkeit und politische EntscheidungsträgerInnen anders reagierten als sie gedacht hatten: diese Leute werden andere Wege suchen und finden, ihre Ziele zu erreichen. Denn im Gegensatz zu Menschen, die sich tatsächlich gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen einsetzen, verfügen besagte Netzwerke über sehr viel Geld und großen Einfluss, was sie mittels der Chatkontrolle noch auszubauen gedenken.

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